julie mehretu
believer’s palace, 2008-09
ink and acrylic on canvas, 305 x 427 cm
while the others are dancing,
today’s sensor review spotlight is on:
© julie mehretu
crises, wars, and devastations plague the world of the early 21st century and thus create new urban realities. julie mehretu works on her vision of the interplay between hope and fear through the cityscape of berlin, creating from her topographical research a conceptual form of history painting. after destruction, the total war against all humanistic values and norms, the ideals of modernity are also found under rubble, whose salvaged fragments are gradually pieced back together layer by layer. in the interweaving of destruction and construction, the edifice of contemporary thought models builds up like mortar on stone, with past, present, and future merging into one another. when ruins, trenches, and camps are layered as drawings or blueprints, the original use becomes blurred, the clear form dissolves, and simultaneously gives birth to a new interpretation. in the free combinability of all building forms, detached from their time and original function, mehretu draws from her reduced quotes the question of how power materializes and how subjects move within it.
in a cycle of becoming and passing, the architectural references of the artist vary constantly, yet even here, in her work that leans more towards gesture, they serve as an ordering structure. drawing and painting intertwine, sometimes one is the hunter and the other the hunted, dominant here or regressive elsewhere. ink and acrylic, mehretu’s preferred working materials, embrace both east asian and western culture, just as the painterly gestures of the artist take on calligraphic traits. condensation and dissolution playfully cover the work, and the far eastern idea of emptiness, the balance between form and the blank page, that is, non-form, emerges clearly. according to georges bataille, it is the heterogeneous subject, the excluded, that carries within itself the revolution by virtue of its otherness. in the constant shift between utopia and dystopia, the gate to the artist’s philosophical vision opens, her labyrinth.
war shreds habits and leaves behind a treacherous maze. the chronicler of the weimar republic, george grosz, a representative of new objectivity and a self-proclaimed battle painter, traces the paths taken by soldiers, refugees, and beggars when the war ends and its chaotic aftermath defines new paths and systems. when the architecture of the labyrinth shuts down, sinks into the ground, the traces of movement remain, as an inscription of use and a document of time. mehretu’s work may not use the strict structuring of architecturally ordered signs, but they remain as invisible traces in the respective works. art as an individual, culture-shaping factor loses its value when all parts of society are individualized, or at least assume to be. people will always traverse a personal labyrinth, yet each generation determines anew its outcome. the world is ugly, and julie mehretu works to find out why that is. through her individual transformation, she adds a position to this confusion of good and bad, of purposeful and lost traces, one that warns and at the same time can reconcile.
iir, october 2024
Krisen, Kriege und Verwüstungen suchen die Welt des beginnenden 21. Jahrhunderts heim und erschaffen somit neue urbane Realitäten. Julie Mehretu erarbeitet ihre Vision der Wechselbeziehung zwischen Hoffnung und Angst anhand des Stadtbildes Berlin und kreiert aus ihrer topographischen Recherche eine konzeptionelle Form der Historienmalerei. Nach der Zerstörung, dem totalen Krieg gegen sämtliche humanistischen Werte und Normen, finden sich auch die Ideale der Moderne unter Trümmern, deren geborgene Bruchstücke fortan Schicht für Schicht wieder zusammengefügt werden. Im Ineinandergreifen von Destruktion und Konstruktion baut das Ideengebäude kontemporärer Gedankenmodelle wie Mörtel auf Stein, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft fügen sich ineinander. Werden Ruine, Graben und Lager als Ansichtszeichnung oder Bauplan übereinandergeschoben, verwischt sich die ursprüngliche Nutzung, die klare Form löst sich auf und gebiert gleichzeitig eine neue Lesart. In der freien Kombinierbarkeit aller Gebäudeformen, losgelöst von deren Zeit und ursprünglicher Funktion, zieht Mehretu die Frage aus ihren zu Zeichen reduzierten Zitaten, wie sich Macht materialisiert und sich die Subjekte darin bewegen.
In einem sich gleichmütig wechselnden Zyklus von Werden und Vergehen variieren die architektonischen Bezüge der Künstlerin in stetem Wechsel, unterliegen aber auch hier, in ihrem dem eher Gestischen zugewandten Werk, als ordnende Struktur. Zeichnung und Malerei verweben sich, sind Verfolger und Verfolgter hier, dominant oder regressiv andernorts. Tusche und Acrylfarbe, Mehretus bevorzugte Arbeitsmaterialien, umklammern ostasiatische und westliche Kultur, wie auch der malerische Gestus der Künstlerin kalligraphische Züge hat. Verdichtung und Auflösung überziehen spielerisch das Werk, und die fernöstliche Idee der Leere, der Ausgewogenheit zwischen Form und leerem Blatt, also Nichtform, dringt deutlich zutage. Nach Georges Bataille ist es das heterogene Subjekt, das Ausgeschlossene, das in seinem Anderssein die Revolution in sich trägt. Im regen Wechsel zwischen Utopie und Dystopie öffnet sich die Pforte zur philosophischen Vision der Künstlerin dar, ihrem Labyrinth.
Der Krieg zerfetzt Gewohnheiten und hinterlässt einen heimtückischen Irrgarten. Der Chronist der Weimarer Republik, George Grosz, Vertreter der Neuen Sachlichkeit und selbsternannter Schlachtenmaler, zeichnet die Wege auf, die Soldat, Flüchtling und Bettler begehen, wenn der Krieg beendet und seine wirren Spuren die neuen Wege und Systeme bestimmen. Fährt die Architektur des Labyrinths herunter, verschwindet im Boden, verbleiben die Spuren der Bewegungen als Einschreibung der Nutzung und Zeitdokument. Mehretus Werk mag die strenge Strukturierung der architektonisch ordnenden Zeichen nicht nutzen, als unsichtbare Spur allerdings verbleiben sie in den jeweiligen Arbeiten erhalten. Kunst als individueller, kulturprägender Faktor verliert dann seine Wertigkeit, wenn alle Teile der Gesellschaft individualisiert sind oder dies zumindest annehmen. Die Menschen werden immer ein persönliches Labyrinth durchlaufen, dennoch bestimmt jede Generation aufs Neue dessen Ausgang. Die Welt ist hässlich, und Julie Mehretu arbeitet daran herauszufinden, warum das so ist. Sie fügt durch ihre individuelle Transformation diesem Wirrwarr an Gutem und Schlechtem, zielsicheren und sich verlierenden Spuren eine Position hinzu, die warnt und gleichzeitig versöhnen kann.
iir, october 2024