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marcel duchamp
fountain, 1917

industrially manufactured urinal, size unimportant

while the others are dancing,
today’s sensor review spotlight is on:

marcel duchamp

© duchamp archives

en
de

a good story needs a lot of coincidences, a certain sum of dubious co-authors, so to speak, according to the motto: „if xy hadn’t…“ to make it famous, the true authorship must be claimed by a third party, but it only becomes immortal when the mysterious object of desire vanishes in a puzzling way. scandal is a word that is frequently used 100 years ago, and the people causing it gain fame for a brief time. „nude descending a staircase no. 2“ is a painting that causes such a scandal, and marcel duchamp is its creator. with „fountain,“ duchamp takes it a step further, choosing a mass-produced urinal, renaming it, placing it on its back contrary to its original use, signing it with the pseudonym r. mutt, and calling the whole thing a work of art. this innovation, termed a readymade, is submitted to an exhibition without evaluation criteria or a jury but is still rejected. for a second, smaller presentation, it is photographed, actually displayed, and finally discarded as a soiled piece of plumbing.

in 2018, the feminist writer siri hustvedt expresses the opinion, among others, in an interview that elsa von freytag-loringhoven is the true creator of the object trouvé now elevated to art, however, science finds no compelling evidence for this claim. we find ourselves in the heyday of dadaism, where a certain eccentricity is paraded like a pasted-on beauty mark, and the stylishly silent word-mystic duchamp can only benefit from all the uproar. with the cryptic statement that he himself has not yet found a satisfying definition for a readymade, he adds a bit more smoke to the already heated debate about the power or impotence of ideas. the forward-thinker, coming from an artistically gifted family, is otherwise of a rather calm disposition, a rarity and almost ennobling advantage in a time of diligent verbosity. duchamp chooses the right moment to reveal the pseudonym, and the much-discussed tussle over the value and craftsmanship of art now revolves around him, the quiet one. alfred stieglitz finally exhibits the object, denounced as immoral and vulgar, in his gallery and simply throws it away after its closure.

not long freed from the constraints of bourgeois-aristocratic commissioned work, duchamp formulates an even greater prison for the industrious artists in his environment—a guardhouse with cells that grow smaller over time—namely, the penal institution of their own thinking. by naming the differences between art and non-art as variable, he seemingly opens new terrain, whose deeper philosophical significance will only be recognized from the 1960s onwards. in truth, however, he projects the blueprints of a new building based on his own ideas. moreover, the man is a dadaist joker; in 1964, the artist will reveal in an interview that artworks are mere appearances and that their interpretation and evaluation depend on systems no more serious than those of fashion. understanding and evaluation are dependent on conventions, which duchamp redefines. borrowing from the term ready-made garment, originally used by the fashion industry for off-the-rack clothing, he directs his conceptual trajectory. the flight path and landing points of his objects mark the boundaries of the structure he has constructed, within which his successors timidly practice their throwing techniques in increasingly hesitant attempts.

iir, december 2024

Eine gute Geschichte braucht eine Menge an Zufällen, eine gewisse Summe dubioser Co-Autoren sozusagen, nach dem Motto: „Hätte XY nicht …“. Um sie berühmt zu machen, muss von dritter Seite die wahre Urheberschaft beansprucht werden, aber unsterblich wird sie erst, wenn das geheimnisvolle Objekt der Begierde auf mysteriöse Weise verschwindet. Skandal ist ein vor 100 Jahren noch gerne verwendetes Wort, und die Menschen, die ihn verursachen, gelangen für eine kleine Weile zu Berühmtheit. „Akt, eine Treppe herabsteigend Nr. 2“ ist ein Gemälde, das einen solchen verursacht, und Marcel Duchamp dessen Erschaffer. Bei „Fountain“ geht Duchamp allerdings einen Schritt weiter: Er wählt ein industriell hergestelltes Urinal, benennt es um, legt es entgegen seiner ursprünglichen Nutzung auf den Rücken, signiert es unter dem Pseudonym R. Mutt und nennt das Ganze ein Kunstwerk. Die als Readymade bezeichnete Neuerung wird zu einer Ausstellung eingereicht, die keine Bewertungskriterien oder eine Jury besitzt, und wird dennoch abgelehnt. Für eine zweite, kleinere Präsentation wird es fotografiert, tatsächlich dann auch gezeigt und zu guter Letzt als gebraucht besudeltes Klempnerutensil entsorgt.

Die frauenbewegte Schriftstellerin Siri Hustvedt vertritt 2018 in einem Interview neben anderen die Ansicht, Elsa von Freytag-Loringhoven sei die wahre Schöpferin des nunmehr zur Kunst erhobenen Object Trouvé, die Wissenschaft findet dafür aber keine triftigen Beweise. Wir befinden uns in einer Hochphase der Dadaisten, in der eine gewisse Exzentrik wie ein aufgeklebtes Muttermal vorgeführt wird, und der stilsicher schweigsame Wortmystiker Duchamp kann von dem ganzen Aufruhr nur profitieren. Mit der kryptischen Ansage, er habe selbst noch keine befriedigende Definition für ein Readymade gefunden, bläst er nur noch ein wenig mehr Rauch in die ohnehin schon erhitzte Diskussion um die Macht oder Ohnmacht von Ideen. Der einer künstlerisch begabten Familie entstammende Vordenker ist auch sonst eher von ruhigem Wesen, in einer Zeit beflissentlicher Geschwätzigkeit eine Rarität und nahezu adelnder Vorteil. Duchamp wählt den richtigen Moment, das Pseudonym zu lüften, und die vielerorts heftig diskutierte Rangelei um Wert und Handwerklichkeit von Kunst kreist nun um ihn, den Stillen. Alfred Stieglitz stellt das als unmoralisch und vulgär beschimpfte Objekt schliesslich in seiner Galerie aus und wirft es nach deren Schließung einfach weg.

Noch nicht allzu lange aus den Zwängen bürgerlich-aristokratischer Auftragsarbeit befreit, formuliert Duchamp den rührig umtriebigen Künstlern seines Umfeldes ein noch größeres Gefängnis – mit im zeitlichen Ablauf immer kleiner werdenden Zellen – das ihres eigenen Denkens. Indem er die Unterschiede zwischen Kunst und Nicht-Kunst als variabel benennt, öffnet er, dessen tiefere philosophische Bedeutung erst ab den sechziger Jahren gesehen wird, vermeintlich neues Terrain. In Wahrheit allerdings projiziert er die Grundrisse eines neuen Gebäudes, dessen Plan auf seinen eigenen Vorstellungen beruht. Zudem ist der Mann ein Dada-Schelm. 1964 wird der Künstler in einem Interview preisgeben, dass Kunstwerke reiner Schein seien und deren Interpretation und Bewertung von Systemen abhängen, die auch nicht seriöser wären als die der Mode. Verständnis und Bewertung sind abhängig von Konventionen, die Duchamp neu formuliert. Dem Begriff Ready-Made Garment, ursprüngliche Bezeichnung der Modeindustrie für Konfektionskleidung, also Stangenware vom Band, entlehnt er seine gedankliche Wurfrichtung. Flugbahn und Aufschlagsort seiner Objekte bilden die Grenzen des von ihm konstruierten Bauwerkes, innerhalb dessen die ihm Nachfolgenden in immer zaghafteren Versuchen ihre Wurftechniken üben.

iir, december 2024