saul leiter
walking, 1956
photography
while the others are dancing,
martin eugen raabenstein’s
sensor spotlight focuses on:
© saul leiter foundation
spatial depth, color composition, and a distinctive integration of the human figure form the three defining main elements in the work of saul leiter, the photographer and painter born in pittsburgh in 1923. originally expected to follow family tradition and become a rabbi, he decides against that path, chooses instead the uncertainty of artistic creation, and boldly sets out for new york to try his luck there. early on practiced in handling the camera, leiter’s colorful fashion photographs begin shaping magazines like esquire, harper’s bazaar, elle, and british vogue from the late 1950s onward. restricted by the tiresome bustle and the sheer number of people involved in producing a fashion spread, leiter one day spontaneously grabs his camera and leaves this profession in favor of a free and more independent form of street photography. he accepts the resulting financial downfall with confidence and is only able to witness the late fame decades later and at an advanced age, which finally reaches him with the publication of a book on his work in 2006. the striking and immediately recognizable visual world of this art-history-savvy admirer of japanese calligraphy finds its inspiring models in isometric representation and its major edo-period practitioners, above all in the unique combination of figuratively reduced depiction and color within the flatly designed space of the ukiyo-e master utagawa hiroshige.
the style-defining pioneer of european impressionism, however, is unable to accumulate significant wealth despite a large number of printed works and dies in 1856, withdrawn as a buddhist monk, of cholera. recognized but, due to advancing alcoholism, prevented in 1901 from completing a rich body of work, the montmartre bohemian henri de toulouse-lautrec depicts the belle époque in a correspondingly personal manner. in his lithographic works, inspired by japanese woodcuts, a clearly defined color palette shapes and contains the compressed visual space. both artists share a cautious, almost distanced approach to the portrayed figures, from whom they also withhold a clear image center, thereby increasing the impression of spontaneous vitality. leiter’s use of a long focal length and the resulting shallow depth of field translates this artistic perspective into the world of photography. the human figure does not dominate the scene but, in the spirit of martin heidegger, is merely part of a larger whole, which leiter captures with a fine sense for situational blur. the zen writings of daisetz teitaro suzuki, which influence the beat generation in the 1950s, also form a philosophical background—alongside the existentialism of jean-paul sartre, simone de beauvoir, and albert camus, which emphasizes self-determined action and decision. seen as a search for meaning that questions existence, leiter’s often tightly framed compositions portray the here and now while simultaneously capturing what timelessly connects past and future—the unshaped poetry of the moment.
hiroshige, de toulouse-lautrec, and leiter draw their quiet strength from the eternal contradiction between uncertain hope and blind confidence. whether arduous wandering, drunken stumbling, or aimless drifting—each artist’s scenic choices are determined by an open ending dissolving into blur and undefined distance. whether the blonde mother figure doris day loses herself in belting out que sera or audrey hepburn dances the existentialist in funny face—both point to a journey into meaning and future, depending on the respective audience. leiter is, during his lifetime, an intensely curious and eloquent conversationalist. after his death in 2013, boxes of undeveloped film from various decades are found in his estate. as global interest in his still-undiscovered work rises, many of the film emulsions he used can no longer be developed—an oddly contradictory development. leiter’s theme of the unreachable, seen through misted, blurry glass panes, repeats itself in his legacy—now left undiscoverable. yet the master leaves behind many more unopened boxes, from which one can still draw his wonderfully open world in astonishment …
iir, july 2025
Raumtiefe, Farbgestaltung und eine spezielle Einbindung der menschlichen Gestalt bilden die drei prägenden Hauptelemente des 1923 in Pittsburgh geborenen Fotografen und Malers Saul Leiter. Ursprünglich einer Familientradition folgend, soll er Rabbiner werden, entscheidet sich jedoch gegen diesen Lebensweg, wählt stattdessen die Unsicherheit des künstlerisch Gestaltenden und begibt sich mutig nach New York, um dort sein Glück zu versuchen. Schon früh im Umgang mit der Kamera geübt, prägen Leiters farbige Modefotografien ab Ende der fünfziger Jahre Magazine wie Esquire, Harper’s Bazaar, Elle und der British Vogue. Vom unleidigen Trubel und der schieren Menge an beteiligten Personen bei der Erstellung einer Modestrecke eingeschränkt, packt Leiter eines Tages spontan seine Kamera ein und verlässt diese Profession zugunsten einer freien und unabhängigen Fotografie auf der Straße. Den finanziell desaströsen Abstieg nimmt der Künstler selbstbewusst in Kauf und kann erst Jahrzehnte später und in hohem Alter dem späten Ruhm beiwohnen, der ihm durch die Veröffentlichung eines Buches über sein Werk im Jahr 2006 schließlich doch noch zuteilwird. Die eindrückliche und sofort wiedererkennbare Bildwelt des in Kunstgeschichte äußerst bewanderten Liebhabers japanischer Kalligraphie findet ihre inspirierenden Vorbilder in der isometrischen Abbildung und deren maßgeblichen Vertretern der Edo-Zeit, allen voran in der individuellen Kombination aus figürlich reduzierter Darstellung mit Farbe innerhalb des flach gestalteten Raums des Ukiyo-e-Meisters Utagawa Hiroshige.
Der stilprägende Vorreiter des europäischen Impressionismus kann allerdings trotz einer großen Anzahl gedruckter Werke auf kein größeres Vermögen zurückgreifen und verstirbt 1856, zurückgezogen als buddhistischer Mönch, an der Cholera. Anerkannt, jedoch durch fortschreitenden Alkoholismus 1901 früh um ein reiches Lebenswerk gebracht, bildet der Montmartre-Bohémien Henri de Toulouse-Lautrec die Belle Époque in einer entsprechend eigenen Darstellung ab. In seinen von japanischen Holzschnitten angeregten lithographischen Arbeiten formt und umfasst ein klar definiertes Kolorit den gestaucht dargestellten Raum. Beiden Künstlern gemeinsam ist eine vorsichtige, fast distanzierte Annäherung an die dargestellten Personen, denen sie darüber hinaus ein klares Bildzentrum verwehren und so die Abbildung spontaner Vitalität nur erhöhen. Leiters Umgang mit einer langen Brennweite und der dadurch entstehenden geringen Tiefenschärfe interpretiert diese künstlerische Sichtweise in die Welt der Fotografie um. Der Mensch bildet so nicht maßgeblich das Geschehen, sondern ist, ganz im Sinne Martin Heideggers, nur Teil eines größeren Ganzen, das Leiter mit feinsinnigem Gespür für situative Unschärfe einzufangen weiß. Die in den fünfziger Jahren die Beat Generation beeinflussenden Schriften über Zen von Daisetz Teitaro Suzuki bilden ebenfalls einen philosophischen Hintergrund, ebenso wie der zeitgleich von Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir und Albert Camus geprägte, Handlung und Entscheidung selbstbestimmende Existenzialismus. Unter dem Aspekt einer die Existenz hinterfragenden Sinnsuche betrachtet, bildet Leiter in seiner zumeist eng gefassten Cadrage das Hier und Jetzt ab, um gleichzeitig zeitlos zu zeigen, was Vergangenes und Zukünftiges immer verbinden wird – die ungeformte Poesie des Augenblicks.
Hiroshige, de Toulouse-Lautrec und Leiter beziehen ihre insgeheime Stärke aus dem ewigen Widerspruch zwischen ungewisser Hoffnung und blinder Zuversicht. Ob mühevolles Wandern, besoffenes Trampeln oder gedankenverlorenes Schlendern – der sich in Unschärfe auflösende, offene Ausgang in unbestimmter bestimmt die szenische Auswahl des Künstlers.Ob sich das blonde Muttertier Doris Day im Schmettern von Que sera verliert oder Audrey Hepburn in Ein süßer Fratz die Existenzialistin tanzt – beides verweist auf eine jeweilige Expedition in Sinn und Zukunft, entsprechend der jeweiligen Zielgruppe. Leiter ist zu Lebzeiten ein äußerst interessierter und redegewandter Gesprächspartner. 2013 verstorben, finden sich in seinem Nachlass Kisten mit noch unentwickelten Filmen aus allen möglichen Jahrzehnten. Während das weltweite Interesse an seinem noch unentdeckten Werk steigt, existieren für verschiedene von ihm verwendete Filmemulsionen keine Verfahren mehr, um diese zu entwickeln – eine eigenartig gegenläufige Entwicklung. Leiters Thematik der Unerreichbarkeit hinter dunstbedeckten, unscharfen Glaswänden wiederholt sich in seiner Hinterlassenschaft – die nun keiner mehr entdecken kann. Doch der Meister hinterlässt noch viele weitere, ungeöffnete Schachteln, aus denen man diese wunderbar offene Welt staunend entnehmen kann …
iir, july 2025